Zurück zu den Wurzeln: Reise nach „Franzfeld“
Was hat mich dazu gebracht, kurz vor meinem 50. Geburtstag eine Reise in die „ alte Heimat“ anzutreten? Nicht in meine Heimat – in die meiner Urgroßmutter, meiner Großmutter und auch meiner Mutter. Sie alle hatten in Franzfeld wichtige, prägende Jahre ihres Lebens verbracht. Und doch ist ihre Heimat auch Teil meiner Geschichte, denn mit allen dreien - Urgroßmutter, Großmutter und Mutter – fühle ich mich sehr verbunden. Ich bin aufgewachsen mit den Erinnerungen an „drham“,mit den Erzählungen in einer Mundart, die mir als Kind stets ein wenig schrullig vorkam, und mit für mich damals exotischen Gerichten wie „Hihnlissupp“,Djuvec-Reis, „Knepflis-Paprikasch“ und „Paradeisersoß“, die es nur bei Oma und Uroma gab. Mit „Eiskipfel“, „Kirbsestrudel“ und dergleichen haben sie schon früh die Grundlage für meine Leidenschaft für Kuchen und Gebäck gelegt. Ich würde viel darum geben, mich heute noch einmal an ihren Kaffeetisch setzen zu können…
Im Februar ist meine Großmutter mit 92 Jahren gestorben. Ein paar Wochen zuvor hatte sie beschlossen, dass es jetzt genug sei. Sie, die sich in den langen Jahren ihrer Krankheitdoch schon so weit aus der Gegenwart zurückgezogen hatte, war in den letzten Wochen ihres Lebens auf einmal wieder mit ihrer ganzen Entschlossenheit präsent. Sie hat ihre Würde auch am Schluss nicht verloren, und das entsprach, wie ich finde, ihr und ihrem Leben.
Mir war schon einige Wochen vor ihrem Tod, als würde ich plötzlich ihre Erinnerungen „mittragen“. Als ob eine Last auf meine Schultern liege: die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das, was sie erlebt hatte, nicht in Vergessenheit geriete.
Ich öffnete – zum ersten Mal – das Exemplar des Buches über Franzfeld, das sie mir zugedacht hatte. Auf die erste Seite hatte sie, schon mit zittriger Schrift, geschrieben: „Für S. von Oma“. Da wurde mir klar, dass ich auf eine Reise gehen musste. Auf einmal hatte ich das Bedürfnis, meine Großmutter als ganze Person zu sehen: nicht als die, die sie in den letzten Jahren ihrer Krankheit gewesen war, und auch nicht als meine Großmutter. Ich wollte ihr Leben begreifen und ihr als Person gerecht werden - als junge Frau, Ehefrau, Mutter, Witwe und als Flüchtling.
Keine einfache Aufgabe, denn allzu viel ist aus dieser Zeit nicht überliefert. Als Kinder hatten wir sie und die Uroma oft nach dem Leben in Franzfeld und nach der Flucht gefragt. Auch nach dem Opa, der vermisst war und noch immer schmerzlich vermisst wurde. Wir fanden es immer ein wenig gruselig, wenn sie vom „Lager“, von verschimmeltem Brot und Suppe mit Käfern erzählten, und konnten uns das alles doch nicht vorstellen. Es waren auch immer wieder die gleichen Formulierungen. Was wirklich passiert war, wie es meiner Großmutter gelungen war, mit meiner damals vierjährigen Mutter zu überleben, das wussten wir nicht. Hatte sie uns keine Einzelheiten zumuten wollen? Oder hatten wir, die wir in Sicherheit groß werden durften, ganz einfach die falschen Fragen gestellt? Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich meine Uroma immer wieder gebeten habe, mir doch zu erzählen, wie es damals war, wenn sie tanzen gingen. Keine wichtigen Details, aus heutiger Sicht, und doch denke ich sehr gern an die Nachmittage, an denen wir so zusammen saßen. Manchmal sahen wir uns die alten Schwarzweißfotos an, die die beiden - wer weiß, wie - mit auf die Flucht nehmen konnten. Für mich waren es Bilder aus einer anderen, fremden Welt.
Mich begannen auch die politischen Ereignisse zu interessieren, die zu Internierung und Vertreibung geführt hatten. Darüber sprachen, als ich noch Kind war, nur die Männer – die Frauen hatten meist andere Themen. Ich las mich durch alle Texte, die ich in den Büchern meiner Großmutter und im Internet finden konnte. Erst allmählich begriff ich die Hintergründe und das ganze Ausmaß des Leids, das die Menschen im Banat hatten ertragen müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir richtig bewusst, was meine Großmutter durchlitten haben musste, und es machte mich furchtbar traurig. Ich las von vielen Schicksalen, die ähnlich verlaufen waren. All das half mir, ihre Geschichte in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Ich fand Antworten auf einige Fragen, und manche Erinnerung wurde wieder aufgefrischt.
Als meine Großmutter starb, trauerte ich um meine Oma, die mich fast fünfzig Jahre meines Lebens begleitet hatte und die ich sehr vermisste. Gleichzeitig trauerte ich aber auch um die Frau, die schon in jungen Jahren das, was sie damals glücklich gemacht hatte, unwiederbringlich verloren hatte. Ich wusste, dass sie diesen Verlust nie ganz verwunden hatte.
In dieser Zeit entstand der Wunsch, den Ort zu sehen, wo sie als junge Frau gelebt hatte. Ich wollte die Landschaft sehen, die das Dorf umgab, das Haus und die Gasse finden, in der sie gewohnt hatte, das Zimmer betreten, in dem sie getraut wurde –im Grunde wollte ich ihr nahe sein, etwas finden, was mich mit ihr verband oder mich berührte. Und ganz sicher wollte ich auch wieder „Franzfelderisch“ hören und Menschen treffen, die wie sie dort zu Hause gewesen waren. Ich nahm Kontakt zu Frau Gioth-Hee auf, die mich herzlich willkommen hieß.
Meine Mutter wollte mich auf der Reise nach Kačarevo begleiten, worüber ich mich sehr freute. Als unser Abreisetag näher kam, stieg bei uns beiden die Nervosität. Ich wusste wirklich nicht, was mich erwarten würde. Meiner Mutter ging es ähnlich, obwohl sie 1979 schon einmal ihren Geburtsort mit ihrer Mutter besucht hatte.
Von Anfang an hatte ich das Gefühl, an einem Familientreffen teilzunehmen. Unsere Gruppe bestand teils aus echten Franzfeldern, die noch dort geboren waren, ihre Kindheit oder Jugend dort verbracht hatten, und ihren Angehörigen und Freunden, teils aus Nachkommen von Franzfeldern, die wie ich auf der Suche nach ihren Wurzeln waren. Es war eine sehr gelungene Mischung aus ganz verschiedenen Charakteren, die durch ihr Zusammenwirken aus dieser Reise etwas Unvergessliches machten. Es gab keinerlei Berührungsängste: Wir hatten viele Gespräche, und die Älteren teilten ihre Erinnerungen bereitwillig mit den Jüngeren. Wie Teile eines Puzzles fügten sich manche Geschichten ineinander und ergänzten so die Erzählungen aus meiner eigenen Familie.
Vor allem hatten wir viel Spaß miteinander. In kürzester Zeit sind wir in der Gruppe richtig zusammengewachsen, und jeder hat auf jeden geachtet. Wir haben so viel zusammengelacht! Und wir hatten viele Erinnerungen gemeinsam: die Älteren an ihre Jugend in Franzfeld, die Jüngeren an die Großeltern und Eltern, an deren Redensarten, und alle zusammen natürlich an die gute donauschwäbische Küche. Letztere fanden wir vor allem am Abend bei Julka in Kačarevo wieder, die uns neben anderen Köstlichkeiten eine Hühnersuppe mit selbst gemachten Nudeln servierte, die mich an den Esstisch meiner Uroma zurückversetzte. Sogar der Mohnstrudel, den ich immer so gerne gegessen hatte, wurde gereicht…
Es gab natürlich auch besinnliche und traurige Momente. Besonders bewegend war für mich der Besuch in Rudolfsgnad (serb. Knićanin). Die Atmosphäre an diesem Ort ist unendlich trostlos, und mir wurde sehr schwer zumute, als ich auf der Teletschka stand, über das Massengrab hinweg auf den Horizont blickte und versuchte, die Ausmaße der dort geschehenen Grausamkeiten zu begreifen. Wie viele stumme Klagen scheinen noch heute von dort aufzusteigen! Als ich die Bilder des Werschetzer Malers Robert Hammerstiel in der Kapelle auf dem Rudolfsgnader Friedhof sah, konnte ich die Angst und Verzweiflung der Menschen, die aus ihren Dörfern getrieben wurden, förmlich spüren, so eindrücklich hat der sie in den Gesichtern der Menschen dargestellt.
Auch der Tag, den wir in Franzfeld/Kačarevo zur freien Verfügung hatten, hat vieles in mir ausgelöst. Das begann bei der Suche nach dem Haus meiner Urgroßeltern und Großeltern anhand des alten Ortsplans von Franzfeld, die fast etwas von einer Schnitzeljagd hatte, bei der man jedem Hinweis nachgehen muss. Mit vereinten Kräften ist es uns in einer charmanten Kleingruppe gelungen, beide Häuser zu identifizieren, und für mich war es ein sehr ergreifendes Gefühl, auf Wegen zu gehen, die meine Franzfelder Familie so oft betreten haben musste. Aber auch die Umwege, die wir auf unserer Suche gingen, verschafften uns interessante und rührende Einblicke: so standen wir, natürlich ohne es zu wissen, plötzlich vor dem Haus eines der Musiker, die abends in Kačarevo für uns gespielt hatten. Er erkannte uns sofort, bat uns herein und bewirtete uns in seinem Garten mit frischen Äpfeln und Feigen. Wir erhielten nicht nur einen Eindruck von der Gastfreundlichkeit der Menschen, sondern auch von der Größe der Grundstücke hinter den Häusern. Da habe ich verstanden, wie sehr die Franzfelder Selbstversorger gewesen waren – Obst, Gemüse, Kukuruz, Hühner, Schweine, Kühe – alles hatte seinen Platz.
Ich hatte nicht erwartet, so viel von der Umgebung zu sehen. Dank des abwechslungsreichen Programms, das Kristina Gioth-Hee und Michael Spaskowski für uns zusammengestellt hatten, konnten wir bei unseren Fahrten über Franzfeld hinaus und auf die Banater Landschaft mit ihren endlosen Mais-und Sonnenblumenfeldern blicken. Vor allem die Stadtführung in Werschetz, derAufstieg zum Turm der alten Festung, der Abend in Kutritz mit dem Besuch des Geburtshauses der Mutter des Malers Robert Hammerstiel und der gemütlichen Weinprobe im Weingut Nedin haben mir sehr gefallen. Ein Highlight war für mich aber auch Pančevo, das Temesch-Ufer mit den kleinen Wirtschaften und der alte Bahnhof mit der Dampflok. Dass alles so reibungslos geklappt hat, haben wir vor allem unserer „inoffiziellen Reiseleiterin“ Barbara S. zu verdanken, die immer wieder spontan eingesprungen ist und mit ihren hervorragenden Serbischkenntnissen und mit viel Geduld die Verständigung erst möglich gemacht hat.
Nach so vielen Eindrücken fanden wir uns am letzten Abend ander Gedenkstätte ein, an der früher die Franzfelder Kirche gestanden hatte. Kristina Gioth-Hee gestaltete mit musikalischer Untermalung ihrer Münchner Gruppe „Die Synkopen“ eine Andacht. Gemeinsam gedachten wir der Vergangenheit, unserer Weggefährten und ihrer Schicksale. Es gab aber auch eine Brücke in die Gegenwart: das Thema Flucht und Vertreibung ist aktueller denn je, und unsere Fürbitten schlossen die Tausende Flüchtling ein, die teilweise über dieselbe Route fliehen wie die Menschen damals.
Richtig in der Gegenwart kamen wir anschließend in der„Hawacht“, dem Rathaus von Franzfeld und Kačarevo, an, wo im alten Trausaal das Musical „Milica im Zauberwald“ unter der Leitung von Kristina Gioth-Hee in deutscher und serbischer Sprache zur Aufführung kam. Die Gruppe „Die Synkopen“ aus München und Kinder aus Kačarevo spielten und musizierten gemeinsam. Ich fand, es war ein sehr schöner Abschluss und gleichzeitig ein Handschlag zwischen den alten und neuen Bewohnern der Ortschaft Kačarevo.
Habe ich auf meiner Reise das gefunden, was ich gesucht hatte? Ich bin nach Franzfeld gereist und in Kačarevo angekommen. Es gibt noch viele Spuren von damals, aber natürlich ist es eine ganz andere Kultur, die nun den Ort prägt. Und doch wurde in unseren Gesprächen und den Erinnerungen der „echten Franzfelder“ noch ganz viel von der „alten Heimat“ lebendig. Ein Ort, an dem man einmal daheim war, weckt Erinnerungen. „Drham“ ist aber zum Glück nicht nur ein Ort, sondern vor allem die Erinnerung an die Menschen, mit denen man dort lebt und an die eigene Lebenszeit, die man dort verbringt. Das gilt für die alte wie die neue Heimat gleichermaßen. Im Gespräch mit einem älteren Franzfelder fiel dann auch wieder das Wort „drham“ – da allerdings als Bezeichnung für das Zuhause in Reutlingen. Das fand ich lustig, aber auch tröstlich.
Es ist schön, dass Frau Gioth-Hee und ihre Freunde in Kačarevo eine Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart möglich machen. Es tut gut, zu erleben, dass es auf beiden Seiten Menschen gibt, die sich für die Geschichte des Ortes und seiner Einwohner interessieren und so die Erinnerung weiter tragen. Vieles ist für mich durch das Erleben des Dorfs und der Gegend, in die es eingebettet ist, besser vorstellbar geworden. Ich freue mich auch darüber, dass ich nun mit „Franzfeld“ eigene Erinnerungen verbinde – an die Tage, die wir dort verbracht haben, an die Menschen, die mich begleitet haben und an das Gefühl einer gemeinsamen Basis, die weit über die einerbeliebigen Reisegruppe hinausgeht. Ein paar neue Franzfelder Ausdrücke habe ich auch gelernt – darunter der Gruß: „Helfgott, was hend’r kocht?“ Der steht für mich für eine ganze Lebensart, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Es war schön, sich mit den älteren Franzfeldern liebevoll daran zu erinnern.
(Autorin Susanne Bauer.)