Kinderstube
Was macht einen Menschen zum Vorbild? Für manche sind Idole, Schauspieler, Sänger oder berühmte Leute. Manchmal sind es Freunde, Bekannte oder Geschwister. Man möchte so sein wie sie. Es ihnen gleichtun.
Bei mir sind/waren es meine Eltern. Mein Vater ist vor 5 Jahren gestorben, aber ich höre heute noch seinen dunklen angenehmen Bariton, wie er sich am Telefon meldete. „Schwaner“
Sie hatten immer ein offenes Ohr für meinen Bruder und mich. Zusammenhalt, wurde in unserer Familie großgeschrieben.
Wenn ich an meine Kindheit denke, kommt oft ein Gefühl der Geborgenheit hoch. Ich sehe, wie ich im Sandkasten sitze. Ich bin alleine. Einige Fenster der umliegenden Wohnungen sind geöffnet. Ich höre Stimmen. Ein Baby schreit. Musik ist zu hören oder ein unsichtbarer Klavierspieler. Aus einem anderen Fenster hallt ein Lachen. Ein Auto fährt vorbei. Die Sonne wärmt mich. Ein Vogel zwitschert. Ich weiß, meine Eltern sind in der Nähe. Dieses wohlige Gefühl der Geborgenheit und Wärme, ist heute noch spürbar. Oft denke ich dann, an meine rosige Kinderstube.
Sonntag früh krabbelten wir oft ins Ehebett unserer Eltern. Sie erzählten Geschichten aus ihrem Leben. Mein Vater berichtete oft vom Krieg. Was er als junger Mann erlebt hatte. Meist lustige Dinge.
Er sagte mal zu mir: „Im Krieg wurde auf beiden Seiten Ungerechtigkeit ausgeübt. Manches war sehr schlimm. Aber wenn man immer den alten Dingen nachhängt. Das ist nicht gut. Man muss auch verzeihen können.“
Der Spruch meiner Mutter: „Alles vorüber, alles vorbei.“
Eine Geschichte war. Nach dem Krieg arbeitete mein Vater als Zwangsarbeiter in einem Kohlebergwerk in Serbien. Als eines Tages in ihren Schlafhütten die Flöhe einzogen, baten sie die Lagerverwaltung um ein Gegenmittel. Was ihnen nicht gewährt wurde.
Er erzählte: „Einige unserer Frauen mussten bei den Offizieren die Betten richten und ihre Zimmer auskehren. Bei der nächsten Reinigung gaben wir ihnen Zündholzschachteln mit. Gefüllt mit Flöhen. Unter ihren Decken wurden sie in die Freiheit entlassen. Einige Tage später bekamen wir medizinische Hilfe.“
Diese Geschichte musste er mir ganz oft erzählen. Ich hörte sie immer wieder gerne.
Meine Mutter erzählte uns, wie sie als junges Mädchen bei einem Bauer arbeitete.
„Der Mais wurde im Innenhof gedrescht. Der Staub flimmerte in der Sonne und legte sich wie Puder auf uns und den Boden nieder. Es wurden Getränke ausgegeben, um unsere trockene Kehle zu befeuchten. Wir sangen Lieder und tanzten auch mal dazu.“
Dabei fällt mir heute immer der Film „Ich denke oft an Piroschka“ ein. In dem Film, mit Liselotte Pulver, gab es eine Szene, in der gedrescht wurde. Alle lachten, sangen und tranken Wein. Das war für mich eine wundervolle Vorstellung. Ein zufriedenes, geborgenes Leben.
Mein Vater hat mich sehr geprägt. Er war ruhig, aber wenn er gereizt wurde, konnte man ihn nicht halten. Er hat mich gelehrt, auch mal meine Meinung zu sagen. Ohne dabei beleidigend zu sein.
„Mit Ehrlichkeit und Offenheit kommst du am weitesten,“ sagte er oft.
Er war mir immer ein Vorbild. Seine stattliche Gestalt und die dunkle Stimme ließen keinen Widerspruch zu. Mein Bruder und ich hatten großen Respekt vor ihm. Wenn er sagte: „Was habe ich gesagt? Ihr sollt eure Sachen aufräumen.“ Dann waren wir ganz schön flott. Da gab es nicht den geringsten Protest. Manchmal genügte auch nur ein scharfer Blick und wir spurten. Dafür brauchte es bei uns keine Gewalt. Meine Eltern waren der Meinung mit viel Liebe und Respekt geht’s auch. Und sie hatten Recht. Sie hätten es nicht besser machen können.
(Autor: Helga Sättler 04.08.2018/Thema Vorbild)